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Dem Gletscher beim Sterben lauschen. Münchner Feuilleton, 2017
Kalle Laars Kunstprojekt »Calling the Glacier« vermittelt seit zehn Jahren die Eisschmelze im Ötztal – per Telefon.
Christiane Pfau
»Diese Frau ist eine Irre.« Das war der erste Gedanke, den der Glaziologenpapst Ludwig Braun von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hatte, als Serafine Lindemann vor zehn Jahren bei ihm auftauchte und ihm ein Kunstprojekt vorschlug, das sie mit ihm gemeinsam realisieren wollte. Man sollte einen Gletscher anrufen und ihm beim Schmelzen zuhören – was für ein Wahnsinn sollte das denn sein? Ludwig Braun schmunzelt heute noch, wenn er sich an die erste Begegnung mit der Münchner Kuratorin erinnert. »Gott sei Dank saß mein jüngerer Mitarbeiter mit im Zimmer, der diskret dieses merkwürdige Gespräch belauschte«, erinnert sich Braun. »Der Kollege meinte, als der Besuch wieder weg war: Klingt seltsam, aber ich kann mir vorstellen, dass das klappen könnte.«
Und so fing Ludwig Braun an, sich Gedanken über das Projekt zu machen, das der Künstler Kalle Laar sich ausgedacht hatte und das zusammen mit der damals noch existierenden Pilotprojektabteilung von Vodafone umgesetzt werden sollte. Tatsächlich kamen einige schräge Figuren zusammen, die alle über besondere Fähigkeiten verfügten, die sie in einen gemeinsamen Topf warfen: Die Ingenieure von Vodafone ihr technisches Knowhow, die Glaziologen der Bayerischen Akademie ihr Wissen um den Vernagtferner im Ötztal, wo die Telefonie eingerichtet werden sollte, ein Münchner Künstler, der sich auf alles, was man hören kann, spezialisiert hat, und seine Kuratorin, die sich seit Jahrzehnten dem »Wertewandel Wasser« widmet.
Was dabei herauskam, ist eine einzigartige Installation: Unter dem Gletscherabfluss an der Pegelstation auf 2600 Metern, wo die Wissenschaftler das Verhalten des Vernagtferner-Gletschers messen, wurde eine Telefonanlage angebracht. Wählt man eine bestimmte Telefonnummer – nachdem Vodafone seine Pilotprojektabteilung auflöste, sprang die ERBE Raiffeisenbank Sölden ein, und seitdem beginnt die Nummer mit der österreichischen Vorwahl –, lauscht man nach einer kurzen sonoren Begrüßung durch Kalle Laar dem Rauschen des Gletscherabflusses. Mal lauter, mal leiser, je nachdem, wie viel Wasser pro Sekunde ins Tal stürzt. Seit 2007 haben mehr als 60 000 Menschen den Gletscher angerufen und ihm beim Sterben zugehört. Das ist makaber, gleichzeitig auch höchst bewegend.
Juli 2017: Jubiläumswanderung auf den Vernagtferner In diesem Sommer machte sich eine Gruppe von Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Interessierten auf, das zehnjährige Jubiläum des Telefonkunstwerks zu begehen. Die Wan- derung über den Vernagtferner-Gletscher stand im Mittelpunkt des Wochenendes. Und was man da erlebte, war ebenso erschütternd wie verwirrend. Schaute vor zehn Jahren nur ein Messlattenstück von etwa 20 Zentimetern Länge aus dem Eis, waren es jetzt fast drei Meter. Das ist die Eishöhe, die der Gletscher verloren hat. Wer heute auf den Gletscher geht, steht auf seinem Boden. Darunter plätschert es munter unter einer glasklaren Eisdecke, und an vielen Stellen sieht man den braunen Fels unter den Eisspalten, die inzwischen nur noch Rillen sind.
Das kann einem vorkommen wie Leichenfledderei – bei diesem unappetitlichen Gedanken ertappt man sich, unsicher über Wasserläufe, dünnes Eis und matschige Schneefelder balancierend. Die Sonne scheint, und auf knapp 3000 Metern herrscht eine angenehme Temperatur von fast zehn Grad. Der Kilometer von einer Gletscherseite zur anderen ist lang, und am Ende erreichen wir eine eingestürzte Eiskathedrale, wie Ludwig Braun das blau schillernde Eisgebilde nennt. »Das war im Winter noch ein Berg auf dem Gletscher, und inzwischen ist er zusammengesackt«, erklärt er.
Man kann jetzt ins Innere des Gletschers hineingehen, wenn man trittsicher ist. Zartbesaitete weigern sich, dem Vernagtferner auch noch in die Eingeweide zu starren. Wie pervers ist dieser Spaziergang, mag sich der ein oder andere Expeditionsteilnehmer gedacht haben. Die Eindrücke sind enorm: Beim Abstieg über das Geröllfeld unterhalb des Gletschers macht uns Ludwig Braun auf die Pflanze aufmerksam, die sich nach zwei bis drei eisfreien Jahren als Erste einen Weg durch den Fels bahnt. Es ist der Steinbrech, eine kleine Insel aus zartgrünen Blättern und vanillefarbenen Blüten. Wir stehen andächtig vor dieser kleinen Pflanze und suchen nach Orientierung: Ist es denn tatsächlich so schlimm, dass Gletscher schmelzen, wenn dafür Platz frei wird für Pflanzen und Leben? Besteht die Möglichkeit, dass in ein paar hundert Jahren hier oben wieder Palmen stehen? Irrsinnige Szenarien machen die Runde.
Dreifache Wassermenge
Ein paar Stunden später werden wir auf der Vernagthütte des Alpenvereins Zeugen eines schweren Gewitters: Der Blitz schlägt in die Hütte ein, der Strom fällt aus, Abrechnungen können nur im Licht der Handytaschenlampen beglichen werden. Notunterkünfte werden eingerichtet, Kontaktlinsenreinigungen improvisiert. Wir können die 100 Meter zur Pegelstation nicht mehr absteigen, dafür ist es zu dunkel und zu rutschig. Innerhalb weniger Minuten ist das gesamte Gelände weiß - bedeckt von daumennagelgroßen Hagelkörnern.
Mitten in der Film- und Fotopräsentation der Geschichte von »Calling the Glacier«, die vom Vernagtferner über Island bis zur Biennale in Venedig, zur Ars Electronica in Linz und Stationen in Spanien reicht, informiert Ludwig Braun die Anwesenden, dass die Abflussmenge von den nachmittäglichen fünf Kubikmetern pro Sekunde jetzt wohl bei 15 Kubikmetern liegt – geschuldet dem Regen, der den Gletscher zusätzlich auswäscht.
Wieder taucht die Frage auf, was die Gletscherschmelze bedeutet. Ludwig Braun wird nicht müde zu erklären: Hier oben zunächst nichts Lebensbedrohendes. Auf Eiszeiten folgen Eis- zeiten, wenn man in größeren Zusammenhängen denkt. Gravierender ist es allerdings für andere Gegenden, deren Trinkwasserversorgung von den Gletschern abhängt. Oder für Inseln, die als Lebensraum verloren gehen, weil der Meeresspiegel ansteigt. Eiszeiten und Schmelzphasen gab es immer, aber so menschengemacht sind sie erst seit der Industria- lisierung.
»Den Klimawandel kann man nicht leugnen und seine Folgen auch nicht«, sagt Braun. »Aufhalten lässt sich diese Entwicklung nur, wenn die Industriestaaten ihre Emissionen in den Griff bekommen.« Nach uns die Sintflut? Oder nach uns: der Steinbrech? Eine einfache Antwort lässt sich nicht erzwingen. Stattdessen fühlt man sich wie ein Nagetier, das mehrere Eiszeiten lang einer Nuss hinterherjagt. Wirklich lustig ist das aber nicht.
Wer sich vergewissern möchte, dass der Gletscher noch atmet, wählt 0043 5254 30089.