Interactive Soundart Projects

___Calling the Glacier________________________________Presse

Was hören wir, wenn es still ist? Aviso, 2017

Handeln abseits des Mainstreams
Serafine Lindemann

WENN WIR DIE Welt auf das reduzieren, was die begrenzte Aufnahmefähigkeit unserer Sinne uns täglich sehen oder hören lässt, entgehen uns Erfahrungen und Erlebnisse, die wir vielleicht – unbewusst oder bewusst – schon immer vermisst haben. Wir wissen und spüren ja, dass die Vielfalt der Welt unser Leben nur selten erreicht. Soweit so gut. In der Regel aber ist unsere Aufmerksamkeit nur auf das gerichtet, was uns quasi vor die Füße fällt, wir agieren zielgerichtet. Wenn wir aber von der »Zielgrade« abweichen und einen anderen Weg einschlagen, was erwartet uns dann? Was hören wir, wenn es vermeintlich still ist?

In einer Zeit, in der wir permanent Geräuschen, Nachrichten, Werbung, immer schneller werdenden Abläufen ausgesetzt sind, steigert sich – zumindest für Anspruchsvolle – der Mehrwert von Ereignissen, die abseits gesellschaftlicher Mainstreams stattfinden und nicht kurzatmigen »Eventisierungen« unterworfen sind. Dinge, Aktionen und Zustände, die erst auf den zweiten, dritten oder gar vierten Blick wahrgenommen werden, haben dabei bereits ihre subtile Wirkung auf uns im alltäglichen Leben entfaltet. Denken wir nur an die vielen sozialen, bürgerschaftlichen und ökologischen Engagements oder interkulturellen Gemeinschaftsprojekte, die bereits in vielen Städten und ländlichen Regionen Wirklichkeit sind.

Aber auch die Mikrowelt mit ihren phantastischen Wesen und Formen belegt, wie viele Parallelwelten um uns herum existieren. Sie alle sind Kleinodien, die es gilt, bewusst zu machen, zu pflegen und zu erhalten, denn sie sind Lebensgrundlage, schaffen Identifikationsmöglichkeiten, stärken Authentizität und Toleranz als Basis für ein lebendiges Miteinander. So vermitteln beispielsweise Kulturschaffende, Forscher, NGOs oder Ehrenamtliche in ihren Werken bzw. Taten ein gemeinsames soziales Gewissen und weisen auf politische, gesellschaftliche und umweltrelevante Themen hin, die bestenfalls ein Gefühl der Verantwortung erzeugen.

DAS INTERESSE VIELER Künstler, die gleich Trüffeljägern Verborgenes aufspüren und sich ihm inhaltlich verschreiben, gilt nicht nur einer Ästhetik der Darstellung. Ihre Kunstformate leben aus dem Prozesshaften, sie konstruieren Situationen, intervenieren in das Alltagsgeschehen, sie hin- terlassen individuelle Erfahrungen und Erinnerungen. Sol- che Kunst macht den öffentlichen Raum zur Bühne und lässt Grenzen verschwimmen, die allzu oft zwischen Kunst und »Realität« gezogen werden.

Mit dem Gletscher telefonieren

Klangkünstler Kalle Laar (Krailling und Wien) geht es darum, akustische Wirksamkeiten auszuloten, um, nach Jahren des Debattierens auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, aktuelle Themenbereiche wie Klimawandel, anstehende Weichenstellungen im Umgang mit unserer Umwelt oder gemeinschaftliche Wandlungsprozesse für jeden »erlebbar« zu machen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass unsere Empfindungen in Bezug auf die uns ständig und aggressiv umgebende Bilderwelt weitgehend beherrschbar sind, hin- gegen die Emotionen, die Klänge und Töne in uns hervorrufen, unser Gehirn und (Unter-)Bewusstsein unmittelbar erreichen, entstand die interaktive Reihe »Call me«. Öffentlich zugängliche Telefonnummern auf trashig gestalteten Visitenkarten bieten den direkten Draht zu Repräsentanten mächtiger Akteure wie Ministerien, Kraftwerken, Konzernen und Behörden (»Klima und Hotline«), aber auch zu schmelzenden Gletschern (»Calling the Glacier«) oder zu neuen Insektenarten mit bislang bei uns unbekannten Krankheitserregern (»Mosquito«). Wir hören Geräusche von Naturphänomenen, die durch die globale Erwärmung verursacht wurden, ande- rerseits wird uns das direkte Gespräch mit Menschen überall auf dieser Welt ermöglicht, um über unsere »Angst vor dem postfossilen Zeitalter« zu sprechen.

DAS ERSTE PROJEKT aus dieser Serie wurde 2007 auf der Biennale in Venedig vorgestellt und feiert dieses Jahr sein 10-jähriges Bestehen: »Calling the Glacier« ist die weltweit einzige direkte telefonische Verbindung mit einem Gletscher. Ein Mikrofon vor Ort überträgt die Geräusche aus der Natur direkt und unbearbeitet an den Anrufer. Man hört fließendes Wasser unterschiedlicher Intensität, gelegentliches Knacken und andere Klänge, die ein lebender Gletscher den Jahreszeiten folgend von sich gibt. Wenn man sich entscheidet, die Nummer des Gletschers auf seinem Telefon zu wählen, wird man dort sein, in Echtzeit, jederzeit, von überall. Nicht die sensationelle Berichterstattung über fremde ferne Welten oder die Übertragung von Informationen stehen im Vordergrund, sondern der persönliche Bezug zu einem Geschehen, das uns alle betrifft.

Aus Erfahrung wissen wir, dass diese Visitenkarten nicht gleich wieder entsorgt werden. Im Gegenteil. Man behält sie in der Brieftasche oder legt sie auf den Schreibtisch, und irgendwann greift man zum Telefon ...

vollständiger Artikel

... WELCHES FAZIT ZIEHEN wir aus dem Querschnitt von Beispielen, die die Bedeutung von Handeln abseits des Mainstreams beschreiben? Konkrete Lösungen für große Probleme können durch genaue Beobachtung von Mikrobereichen oder auch in Nischen gefunden oder zumindest erprobt werden. Kunst, Wissenschaft und Technologie sind Felder, deren Grenzen längst aufgehoben sind und in denen Beobachtung und Experiment wesentliche Methoden sind. Hier, jenseits der Schlagzeilen, finden Pionierleistungen statt, die zu gesellschaftlichen Innovationen und Lebensqualität führen. Freilich bedarf es Mut, sich der Einfühlung und Entschleunigung zu bedienen.

Dr. Serafine Lindemann engagiert sich seit 1989 als selbstständige Kuratorin für ein internationales und experimentelles Kunst- und Kulturprogramm mit den Themenkomplexen Wasser, kulturelle Identitäten und gesellschaftliche Wandlungsprozesse. 2009 Gründungsmitglied des Vereins pilotraum01. Seit 2014 Mitarbeit bei der WasserStiftung.

Zum Weiterlesen:
www.artcircolo.de
www.imzentrum.eu
www.pilotraum01.org
www.wasserstiftung.de
www.aqualonis.de