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Telefonieren mit einem Gletscher. Münchner Abendzeitung, September 2007
Unter der Nummer 089 3791 4058 meldet sich ein Gletscher. „Sie werden direkt und in Echtzeit mit dem Vernagtferner-Gletscher im Ötztal der südlichen österreichischen Alpen auf einer Höhe von 3000 Metern verbunden", sagt eine automatische Telefonstimme und dann rauscht es. Oder es gluckert und gurgelt, je nach Jahreszeit. Möglich macht es ein Mikrofon, das der Münchner Klangkünstler Kalle Laar vor rund einem Jahr direkt am Ausfluss des Gletschers installierte. Mittels modernster Telekommunikationstechnik kommen die Geräusche des Gletschers dann live aus jedem beliebigen Telefon. „Im Winter hört man fast gar nichts, weil dann eine dicke Schneedecke liegt und so soll es ja auch sein“, erzählt Laar, „aber im Sommer ist es höllenlaut."
Rund 10 000 Menschen haben schon angerufen
Im Juni 2006 hatte der 52-jährige Laar das Projekt „calling the glacier" anlässlich der Biennale in Venedig gestartet. „Das Ganze lief im Rahmen eines Kunstprojekts, das sich mit Wasser befasst. Ich habe mir also viele Gedanken zu dem Thema gemacht und war auch in Island, wo ich mit einem Glaziologen gesprochen habe. Wir haben herumüberlegt, wie wir den Menschen das Thema näher bringen könnten und irgendwann habe ich spontan gesagt 'dann rufen wir den Gletscher eben an'." Bis zur Umsetzung dauerte es dann aber noch einige Zeit. „Man stellt ja nicht mal einfach so ein Mikrofon auf einen Berg." Die geschützt liegende Messstation, an der Laar das Mikrofon anbrachte, hatte keinen Strom und auch ein Mobilfunkmast war nirgends zu sehen. Erst mit Hilfe von Solarenergie, einem Signalverstärker und einem Sendemast im nahe gelegenen Italien konnte Laars Idee schließlich umgesetzt werden. Rund 10 000 Menschen haben seitdem das Gletscher-Telefon angerufen. „Es gibt auch Leute, die regelmäßig anrufen, um immer wieder informiert zu sein, was der Gletscher gerade macht", erzählt Laar, minsgesamt bin ich hochzufrieden mit der Resonanz." Ziel des Projekts sei es, Aufmerksamkeit für den Klimawandel zu schaffen. „Gletscher sind ja zu Symbolen des Klimawandels geworden. Sie werden fast schon als eine Art Lebewesen wahrgenommen, die langsam sterben. Um klimatologische Wissensvermittlung geht es Laar aber nicht. „Die meisten Menschen wissen eh schon, dass mit dem Klimawandel etwas nicht in Ordnung ist und die Gletscher weniger werden. Es geht darum, durch das Telefonieren eine emotionale Verbindung zu dem Gletscher zu schaffen."
Aufmerksamkeit für den Klimawandel
Die vielen Rückmeldungen zeigen ihm, dass seine Idee aufzugehen scheint. „Auch auf der Biennale habe ich das gesehen. Da war ich oft dabei, wenn Menschen den Gletscher angerufen haben und bei denen ist währenddessen im Gesicht etwas passiert." Hauptsächlich liege das an der neuen Bedeutung, die das Glucksen und Gurgeln des Wassers auf einmal bekomme, glaubt Laar. „Eigentlich ist das ja ein beruhigendes Geräusch, aber jetzt erzählt es auf einmal etwas ganz anderes und Bedrohliches. Wenn ich es schaffe, viele Leute dadurch so zu erwischen, dass ich sie betroffen mache, dann ist das schon viel."
Um rund 30 Prozent ist die Gletscherfläche des Vernagtferners in den letzten 100 Jahren zurückgegangen. „Der Klimwandel hat dazu geführt, dass die Gletscher dahinschmelzen. Das passiert schon seit 150 Jahren, aber inzwischen ist das Tempo rasant", erklärt Ludwig Braun. Er ist Hydrologe, also Wasserforscher, und wissenschaftlicher Leiter der Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die seit mehr als 30 Jahren eine Forschungsstation am Vernagtferner betreibt und auch Kalle Laars Kunstprojekt dort unterstützt. „Wir Forscher sind ja eher nüchterne Betrachter des Ganzen und es ist wirklich interessant zu sehen, wie viel emotionaler Künstler mit dem Thema Klimawandel umgehen."
Skifahren ist kein Problem
Die Kommission für Glaziologie dokumentiert ihre Forschungen und Messungen am Vernagtferner ganz genau. „Auf unserer Webseite kann man also die Bilder zum Ton aus dem Telefon anschauen. Man kann sehen was für ein Wetter am Gletscher ist, wie viel Schnee und wie viel Wind." Außerdem ist die Kommission auch eine Art zweite Station des Kunstprojekts. Wer sich nach dem Gletscher-Telefonat mehr Informationen über den Klimawandel und das Gletscherschmelzen wünscht und gerne selber tätig werden möchte, der ruft hier an. „Wir wissen inzwischen sicher, dass der Klimawandel vom Menschen und dem Verbrennen fossiler Brennstoffe ausgelöst worden ist", sagt Braun, „was wir dagegen machen können ist eine schwierigere Frage, aber wir machen sicher keinen Fehler, wenn wir versuchen, unsere Häuser nicht mit Erdöl oder Erdgas zu heizen, sondern beispielsweise Dämmungsmaßnahmen einbauen."
Skifahren auf Gletschern sei dagegen kein Problem. „Für den Gletscher sind das sozusagen Peanuts, das kann man mit gutem Gewissen machen. Man sollte aber nicht mit dem eigenen Auto hinfahren, sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln."