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___Calling the Glacier________________________________Presse

Call me - Ein Gletscher verschafft sich Gehör. West Magazin, September 2007

Sein Ohr auf die Auswirkungen des Klimawandels legen, direkt und in Echtzeit – ein Kunstprojekt macht es möglich.
Unter 0043 5254 30089 rauscht der Vernagtferner in den Ötztaler Alpen.


Ein Telefongespräch mit einem Gletscher steht üblicherweise nicht auf der Tagesordnung der verbalen Interaktion – und dennoch ist es möglich. „Call me!“ prangt in roten Lettern auf Visitenkarten, die erstmals bei der 52. Biennale in Venedig verteilt wurden. Darunter in Blassgelb eine deutsche Telefonnummer. Wählt man die 0043 5254 30089 ertönt eine unverbindlich-freundliche Stimme, die dem geneigten Anrufer Folgendes mitteilt: „Sie werden direkt und in Echtzeit mit dem Vernagtferner in den Ötztaler Alpen in Tirol verbunden.“ Nach einem kurzen Klicken in der Leitung hört man ein ohren-betäubendes Rauschen und am liebsten möchte man das „Gespräch“ mit dem Vernagtferner sofort wieder beenden. Die Stimme, mit der er spricht, ist nämlich kein liebliches Plätschern und auch kein sanftes Tröpfeln, sondern mehr ein gewaltiges Brüllen. „Der gesamte Gletscher läuft aus“, sagt Kalle Laar, der Anfang April ein Mikrofon auf rund 2.600 Metern Höhe, weniger als eineinhalb Meter entfernt vom Gletscherbach installiert hat.

Einst bedrohlich, heute bedroht

Im August waren es an manchen Tagen bis zu elf Kubikmeter Schmelzwasser pro Sekunde, die den Berg hinunterflossen. An Spitzentagen sind es sogar noch mehr – bis zu 14 Kubikmeter pro Sekunde donnern dann an der Pegelstation Vernagtbach vorbei. Die Messstation wurde 1973 von der Bayrischen Akademie der Wissenschaften errichtet. Der Vernagtferner ist einer der am längsten beobachteten Gletscher in Europa. Erste Abbildungen vom „Ewigen Eis“ stammen aus dem Jahr 1601.

Der Gletscher war damals noch mächtig und konnte sogar zur Bedrohung für die Menschen in den darunter liegenden Tälern werden. Seine Eismassen stießen bis ins Rofener Tal vor und stauten dort die Rofener Ache zu einem bis zu eineinhalb Kilometer langen Eissee auf. Wenn das Wasser im Frühjahr nicht langsam über die Gletscherkrone abfloss, sondern durch den Damm aus Eis brach, ergoss sich eine gewaltige Flutwelle in die umliegenden Täler. Heute ist der Gletscher selbst bedroht. Seit Beginn der Aufzeichnungen 1963 hat er kontinuierlich an Masse verloren. Rapide bergab ging es etwa ab Mitte der 80er-Jahre. Seitdem verliert er im Sommer immer mehr Substanz, als er im Winter wieder aufbauen kann. Der Gletscher stirbt. Doch Kalle Laar ist kein Umweltaktivist und auch kein akribischer Forscher, der die Stationen des Rückzugs für kommende Generationen dokumentiert. Der 52-jährige in Deutschland geborene Klangkünstler mit lettisch-estnischen Wurzeln versteht sich als Mittelsmann. Die Idee hinter dem Projekt mit dem Titel „Calling the Glacier – a Mobile Elegy“ ist, den Klimawandel direkt und für jeden erfahrbar zu machen.

„Befremden stellt sich ein“

„Wenn die Leute anrufen, hören sie zuerst das Wasser rauschen und Bilder von Bergen inmitten einer intakten Natur werden wachgerufen. Doch das kehrt sich schnell um und verwandelt sich in etwas negativ Konnotiertes und Befremden stellt sich ein“, sagt Laar, der sich seit Anfang der 90er als Musiker und DJ mit experimentellen Klängen beschäftigt. Er sieht es als seine Aufgabe, eine Verbindung zu etwas zu schaffen, das weit weg passiert und doch alle etwas angeht. Das Handy macht es möglich. Jederzeit und von jedem Ort der Welt aus kann man so mit einem schlichten Anruf sein Ohr auf die Auswirkungen des Klimawandels legen. Das Zuhören setzt die eigene Imagination in Gang, meint der Künstler. Diese inneren Bilder können mit einem Foto oder einer Übertragung mit einer Webcam nicht mithalten. „Die bloße Abbildung von etwas schafft Distanz. Der Klang stellt eine unmittelbare Nähe her, der man nicht auskommt.“ Kalle Laar besucht den schmelzenden Ferner in den Ötztaler Alpen immer wieder. „Ich bin jedes Mal gespannt, was sich seit meinem letzten Besuch getan hat.“ Als Laar dem Gletscher im April das erste Mal Gehör verschaffte, plätscherte er noch friedlich wie ein Waldbach. Welche Geräusche die „Gletscher-Hotline“ dem Vernagtferner im Winter entlocken kann, ob man vielleicht sogar ein freudiges Knarren und Ächzen hören wird, wenn sich das Eis wieder ausdehnt, weiß niemand so genau. „Der Gletscher verliert auch im Winter Wasser“, erklärt Ludwig Braun, Glaziologe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. Schweigen wird er also auch dann nicht.

Das Sterben des Vernagtferners

In diesem Jahr hat der Sommer sehr früh begonnen und dem Vernagtferner fehlte schon bald die schützende Schneedecke. „Die Schneeauflage aus dem vergangenen Winter war nur halb so hoch wie normalerweise. In diesem Sommer ist der Gletscher sicher schon zweieinhalb Meter geschrumpft und er ist noch nicht einmal vorbei,“ fasst Braun das Sterben des Vernagtferner in Zahlen. Ein streng negatives Jahr zeichne sich jetzt schon ab. Am verheerendsten war für die vergletscherte Fläche, die von rund elf Quadratkilometern im Jahr 1889 mittlerweile auf circa acht geschrumpft ist, der Jahrhundertsommer vor vier Jahren. Die Massebilanz zeigte mit Minus 2133 Millimetern den größten Schwund seit Beginn der Messungen. „Diese Art von Sommer ist tödlich für den Gletscher. 20 von diesem Typ und der Gletscher wäre in 30 Jahren verschwunden“, zeichnet Braun ein düsteres Szenario. Auch wenn Kalle Laar kein Umweltaktivist ist, sieht er in seiner Installation mehr als nur ein „philanthropisches Kunstprojekt“. „Der Klimawandel ist ein gesellschaftlich brisantes Thema. Der schmelzende Gletscher ist ein Symbol dafür.“

Die Installation am Vernagtferner ist Teil der im Jahr 2000 gestarteten internationalen und interdisziplinären Kunstprojektreihe Overtures von artcircolo München, die sich mit dem Themenkomplex Wasser und seiner herausragenden Rolle beschäftigt. Künstler, Technologen und Wissenschafter gehen dabei eine Symbiose ein. „Die Künstler können auf ganz anderen Registern spielen“, schmunzelt der Glaziologe Braun. „Ihr Zugang verschafft uns ganz neue Zuhörer und flankiert so unsere Arbeit.“

Rund 4000 haben die Nummer vom Vernagtferner bereits gewählt. Kalle Laar will noch weitere europäische Gletscher mit der Welt verbinden. Ziel ist es, eine möglichst breite Palette von Klängen und Geräuschen der in Bedrängnis geratenen Eisgiganten einzufangen. Der nächste Gletscher, der den Anrufern erzählen soll, wie es ihm geht, ist die Pasterze. Ab 5. September steht die Leitung, zeitgerecht für die Präsentation des Projektes auf der diesjährigen Ars Electronica in Linz.